247 Kleinere Schriften XIL 1) Freiheit 2) In diesem Land sind alle
Dinge ein bisschen kleiner! 3) Die fehlerhafte Vorstellung von
Aufrüstungspolitik als wirtschaftlicher Motor
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1) Freiheit
2) In diesem Land sind alle
Dinge ein bisschen kleiner!
3) Die fehlerhafte
Vorstellung von Aufrüstungspolitik als wirtschaftlicher Motor
1) Freiheit
Der Athener sah sich um und
fand herum nur Barbarismus und Tyrannei. Er behandelte oft seine Kinder und
Frau nicht besser, als seine Haustiere, aber er war mit fünfhundert anderen
gleich. Einmal im Monat setzten diese sich zusammen und besprachen öffentliche
Angelegenheiten. Dieser Traum des Menschen von Gleichgerechtigkeit sollte
nicht allzu lange dauern, doch war er der Menschheit ein Beispiel.
Darnach wurde es für
zweitausenddreihundert Jahre dunkel, zuerst die römischen Kaiser, dann
rutschte alles noch weiter ab mit der Völkerwanderung, später das dunkle,
christliche Mittelalter gefolgt von Königen, die leben wollten, wie Götter
und starben, wie alle anderen. Mit dem Nationalismus hatte es seine
schauderhafteste Tiefe erreicht. Millionen andersdenkende, andersaussehende
fielen diesem Wahnsinn zum Opfer.
Erst nach
neunzehnhundertachtundsechzig sollte die Worte Freiheit und
Gleichberechtigung wieder einen Sinn bekommen. Frauen, Farbige,
Andersdenkende, Andersorientierte spürten den Duft dieses Gefühls. Der neue
Traum auf einer höheren Stufe dauerte nur vierzig Jahre.
Vielleicht muss der Mensch
diesmal nur zweihundertdreißig Jahre warten, um sich wieder seiner gehoben
Natur hingeben zu können.
2) In diesem Land sind alle
Dinge ein bisschen kleiner!
Eine Fahrradtour um den
größten See Osteuropas, den Plattensee, die Einheimischen nennen ihn das
ungarische Meer. Die nördliche Seite wird von Felsen begrenzt, die Straßen
und Wege am Ufer ziehen sich in Schlangenbewegungen dahin. Kleinere Ausflüge
in das dahinterliegende Hügelland bieten dem Besucher manchen guten Ausblick
auf die Umgebung. Wieder angekommen am südlichen Ufer, an dem Wochenendhäuser
den Zugang zum Ufer fast schon ganz verbieten, wird der Besucher gebeten,
doch einen Blick auf die nördliche Seite zu richten, um den einen oder
anderen Hügel zu erkennen, den er dort besucht hatte. Versperrt ein
Wochenendhaus gerade die Sicht, so stellt sich die Frage, wohin der Berg denn
plötzlich verschwunden sei. „Hinter dem Haus!“ erklingt die aufklärende Stimme.
Ja richtig, das Land in dem die Dinge klein sind und die Berge hinter dem
Haus stehen.
3) Die fehlerhafte
Vorstellung von Aufrüstungspolitik als wirtschaftlicher Motor
Immer wieder wird erwähnt,
dass Aufrüstungspolitik die Wirtschaft eines Landes ankurbelt, sozusagen zum
Wirtschaftswachstum führt. Der folgende Artikel soll dazu beitragen, diese
Fehlinterpretation der Geschehnisse in einem anderen Licht zu betrachten.
Franklin D. Roosevelt
(Präsident 1933 – 1945): Als er neunzehnhundertdreiunddreißig die Führung der
Vereinigten Staaten von Amerika übernahm befand sich die Welt in einer
Wirtschaftskrise. Auf Rat von John Maynard Keynes versuchte er nun durch
Waffenaufrüstung, Bau von Straßen, Brücken und so weiter die amerikanische
Wirtschaft wieder in Lauf zu bringen (New Deal Politik). Dies klingt
eigentlich logisch. Die Infrastruktur des Landes wird verbessert, dabei
bekommen viele Arbeit, zahlen Steuern, können einkaufen, womit Geld in Umlauf
kommt. Diese Art innerer Ventilator hat nur einen Fehler, er verbraucht mehr
Energie, als er Windenergie produziert. Wäre der zweite Weltkrieg nicht
ausgebrochen, nachdem fast alle Industrieländer mit Ausnahme der U.S.A. unter
riesiger Zerstörung ihrer Produktionsmittel litten, und dadurch die
Vereinigten Staaten weltweit in eine Monopolsituation gerieten und somit die
Weltwirtschaft kontrollieren konnten, hätte die hohe Verschuldung zu einem
Staatsbankrot und somit zu einer Vertiefung der Krise geführt.
Ronald Reagan (Präsident
1981 – 1989): Es ist schwierig zu sagen, ob er wusste, dass die Sowjetunion
wirtschaftlich am Ende ist, oder einfach auf der Weltkarte „Starwars“
spielte. Tatsache ist, dass seine Aufrüstungspolitik den Zusammenbruch des
kommunistischen Blocks beschleunigte. Durch die Beendigung der Teilung der
Welt in zwei Wirtschaftsteile ergaben sich plötzlich Möglichkeiten der
Investition, neue Märkte und somit ein Wirtschaftswachstum. Wäre der Ostblock
nicht zusammengebrochen, wären auch hier die Vereinigten Staaten in der
Staatsverschuldung versunken.
Donald Trump (Präsident 2017
- ….): Vielleicht anhand dieser geschichtlichen Erfahrungen und der Hoffnung
auch so ein historisches Glück zu haben, versucht der dies zeitige Präsident
mit seiner neuesten Aufrüstungspolitik, Handelskrieg und Kriegsspiel auf der
Landkarte, die alte Vormachtstellung der U.S.A. wieder aufzubauen.
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Friday, 26 October 2018
Tuesday, 16 October 2018
246 Kleinere Schriften XL 1) Asien, ferner Osten 2) Wanderschaft in der
Ukraine
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1) Asien, ferner Osten
2) Wanderschaft in der
Ukraine
1) Asien, ferner Osten
Ein Sprachlehrer unterrichtet
einen in Europa oder Amerika lebenden Asiaten. Die Aufgabe ist nicht leicht,
obwohl der Asiate eigentlich fließend Englisch spricht, aber er hat einfach
keine Ahnung von Grammatik. Wie konnte er dann Englisch lernen? Die
asiatischen Schulen arbeiten noch immer nach preußischen Grundsätzen. Von
Pädagogik kann hier nicht die Rede sein. Um chinesische, japanische oder
koreanische Schrift zu lernen, müssen ungefähr dreitausend Schriftzeichen
auswendig gelernt werden. Soviel auswendig zu lernen ist grundsätzlich der
größte Feind pädagogischer Methoden. Die meisten asiatischen Kinder bleiben
einfach mittelmäßige Befehlsausführer, die wenigen, die herausragen haben ein
Gehirn, wie ein Datenspeicher. So lernen sie auch Englisch. Sie lernen
dreitausend Sätze mit fünftausend Wörtern auswendig, sprechen aus diesem
Grund eigentlich ganz gut zum Beispiel Englisch, haben aber meistens keine
Ahnung, warum sie was und wie sagen. Der europäische oder amerikanische
Lehrer müsste bei so einem Schüler zuerst einmal diesen Unterwerfungsgeist
brechen, der nächste Schritt bestände darin, den Begriff Schönheit der
Sprache in den Unterricht einzubauen, um das nur auf Nützlichkeit
ausgerichtete Denken mit Interesse am Geist einer Sprache und Kultur zu
ersetzen.
Er kommt also ins Haus des
Asiaten und wird mit ausgestreckter Hand begrüßt (so viel hat der Asiate
schon übernommen). Die Verbeugung des Asiaten ist sehr tief, der Lehrer ist
für ihn ein kleiner Gott. Ein Intellektueller mit einem bisschen alternativen
oder lockeren Aussehen hat von vornherein fast keine Chance. Die Frau des
Schülers steht verbeugt hinter ihrem Mann die Hände vor sich in ihrem Kimono
versteckt, die Augen auf den Boden gerichtet. Der Lehrer wird in die gute
Stube geführt in dem es einen Tisch und zwei Stühle gibt. Während Schüler und
Lehrer einander gegenüber sitzen, zwischen sich den Tisch, hockt die Frau des
Asiaten in der Ecke und macht für ihren Mann Aufzeichnungen, spricht aber nie
ein Wort. Der Asiate stellt fast nie eine Frage, der Lehrer muss also
herausfinden, was der Schüler vielleicht nicht weiß oder noch nicht
verstanden hat. Jede Korrektur empfindet der Asiate fast wie eine
Erniedrigung. Er lernt sehr fleißig, aber eigentlich alles nur auswendig von
den Aufzeichnungen, die seine Frau in der Ecke für ihn gemacht hat. Ein
solcher Schüler ist für einen preußisch denkenden Lehrer ein siebter Himmel,
für einen modernen in Pädagogik ausgebildeten auf Kreativität aufbauenden
aber eine Katastrophe.
2) Wanderschaft in der Ukraine
Es war Freitag vier Uhr
nachmittags und seine Vorräte waren fast zu Ende. Er wusste, dass er am
Wochenende nirgends einkaufen konnte, also unbedingt ein Dorf und dort ein
Geschäft finden musste, und zwar ein privates, kein staatliches. In
staatlichen Geschäften gab es außer ungenießbarem Schwarzbrot und ein paar
Einmachgläsern mit Kompott oder Fleisch meist nichts. Endlich stiegen ein
paar Dächer von Lehmhäusern hinter einem Hügel auf, er beschleunigte seine
Schritte. Ein kleines Häuschen mit der Aufschrift „магазин“ = Geschäft, sah
ihm entgegen. Als er näher kam, hörte er von drinnen durch die offene Tür
lautes Gelächter und Geschrei. Drei Frauen, zwei hinter dem Pult und eine
davor, auf dem Pult Speck, Brot, Tomaten, Zwiebeln und so weiter, und ein
paar Flaschen Wodka und Mineralwasser. Die meisten Wodkaflaschen waren schon
leer. Er stand am Eingang und fragte höflich, ob er noch etwas einkaufen
könnte. In dem lauten Gelächter gingen die verständlichen Worte unter. Dieses
Geschäft war seine einzige Möglichkeit, noch etwas zu bekommen, deshalb trat
er auf die Schwelle.
Als er da so stand, nahm die
Frau, vor dem Pult stand, eine noch halb volle Wodkaflasche, füllte ein
großes Limonadenglas und drückte es dem Fremden in die Hand. Den ganzen Tag
hatte er nichts gegessen und sollte jetzt Wodka trinken. Als das Glas so
anschaute, wurde das Gelächter der alten Frauen immer lauter. Dann lehrte er
das ganze Glas, nahm keine Luft, sondern aß sofort ein Stück Tomate (auf
diese Weise brennt der Wodka im Hals nicht). Die alten Frauen machten große
Augen, das hätten sie von einem so dahergelaufenen Fremden doch nicht
erwartet. Nach kurzer Stille des Erstaunens, brachen die alten Frauen wieder in
riesigem Gelächter aus, hielten sich die Bäuche, brachen vor Lachen fast
zusammen, und eine klopfte dem Fremden fest auf die Schulter, mit den Worten:
„Wie mein Sohn!“ Dann nahm eine hinter dem Pult einen Plastiksack, packte
Brot, Käse, Milch, Wurst, Tomaten, Speck und so weiter in den Sack, bis er
voll war und überreichte ihn dem Fremden mit einem großen Lächeln im Gesicht.
Noch lange hörte er das Gelächter aus dem kleinen Häuschen, als er sich
wieder auf den Weg machte. Nach zehn Minuten begann der Wodka, langsam zu
wirken. Er ging noch eine paar hundert Meter, dann fiel er unter einen Baum
und schlief ein. Als er wieder aufwachte, war es dunkle Nacht und neben ihm
sein Rucksack und der gefüllte Sack mit Lebensmitteln.
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245 Kleinere Schriften IXL Nordafrika
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Nordafrika:
Hoch in den Bergen lebte er
mit seiner Frau. Im Umkreis von fünfhundert Metern, gab es noch ein paar
Häuser. Wenn er nicht verstand, was ihm der Deutsche sagte, ließ er es sich
aufschreiben, ging ins Haus und zeigte es seiner Frau, die es ihm übersetzte.
Ihr Vater war Gastarbeiter in Deutschland, sie war dort geboren und in die
Schule gegangen. Mit dreizehn brachte sie der Vater nach Nordafrika zurück,
um sie dort mit einem Einheimischen zu verheiraten.
Es ist ungefähr neun Uhr
morgens. Vor dem Haus sitzen Männer und rauchen ihre Sipsi mit Kif-Kif,
während eine Gruppe Frauen mit Kindern sich in die Berge begeben. Am
Nachmittag um drei Uhr kommen sie mit einem großen Pack Holz auf dem Rücken
zurück, während die Männer noch immer dort sitzen und darauf warten, dass sie
endlich etwas Warmes zum Essen bekommen. Der Deutsche langweilt sich und
fragt seinen Gastgeber, ob er nicht einen Ball hätte. Der Einheimische schaut
ihn ein bisschen seltsam an und fragt, wozu er so etwas brauche. „Wir könnten
ein bisschen Fußball spielen, anstatt unnütz hier rumzusitzen.“ „Fußball ist
etwas für Kinder, oder für Leute, die nichts zu tun haben.“ war die Antwort
des verärgerten Gastgebers.
In der Nähe des Zentrums der
Stadt gibt es eine kleine Grünanlage von zweihundert Meter Durchmesser, um
diese läuft ein mehrspuriger Einbahnverkehr. Der Deutsche sucht einen
Taxistand und fragt einen Einheimischen. „Stop the taxi from the road!“ Die
Taxis fahren dort immer im Kreis herum, um den Leuten zu zeigen, dass sie
funktionieren. Ein Taxi, das nicht fährt, funktioniert nicht.
Du kennst viele Sprachen und
verstehst viele Leute. Aber dein Hund ist klüger, als du. Er verständigt sich
mit allen Hunden in der Welt. Das klingt fast, wie eine alte, arabisch Weisheit.
Geschafft! Endlich in einem
Taxi, obwohl der doppelte Fahrpreis bezahlt werden musste, weil der Fahrer
sonst nicht bereit gewesen wäre, auch den Hund mitzunehmen. Im Taxi hängen
verschiedene Schilder aus. Eines liest sich so: „Défense de cracher!“ Während
der Fahrer immer wieder einmal anhält um für die hinteren Plätze neue
Fahrgäste aufzunehmen. Im Allgemeinen hat ein Taxi sechs Beifahrerplätze:
zwei vorne auf dem Beifahrersitz und vier hinten auf den Rücksitzen. Für den
Kofferraum findet sich keiner.
Es ist Winter und alles mit
Schnee bedeckt. Der kleine, barfüßige Nordafrikaner führt den Europäer durch
die Berge um das kleine Dorf herum und erfreut sich seiner Lehreraufgabe, er
will dem Fremden die Sprache der Einheimischen beibringen. Er selbst geht
fast nie in die Schule, weil er seinem Vater bei der Feldarbeit helfen muss.
Deshalb sind seine Fremdsprachenkenntnisse fast nicht vorhanden. Auf dem
kleinen Ausflug zeigt er auf Spuren im Schnee, Hasenpfoten und benennt es mit
der einheimischen Bezeichnung. Der Europäer will ein guter Schüler sein und
wiederholt gehorsam das fremdklingende Wort. Beim nächsten Schneefeld stellt
der Europäer seinen Fuß in den Schnee und zeigt darauf. Der junge Nordafrikaner
schaut ein bisschen verärgert, weil dies nicht seinen Vorstellungen
entspricht, aber lässt sich überreden und gibt auch dieser Spur seinen Namen.
Darauf folgt die Hand. Am Ende setzt sich der Europäer kurz in den Schnee,
steht wieder auf und zeigt darauf. Dies ist für den Jungen zu viel. Nach dem
Ausflug trifft der Europäer diesen Nordafrikaner nie wieder.
Es ist Sommer, ein schöner
Tag, der Europäer kommt aus dem Haus, um einen Ausflug zu machen. Der
Gastgeber zeigt mit dem ausgestreckten Arm auf eine Bergspitze, mit den
Worten, dies sei der höchste im ganzen Land, aber er selbst sei noch nie dort
oben gewesen. Der Fremde macht sich auf den Weg. Nach fünf Stunden hat er die
Spitze erreicht. Vor seinen Augen öffnet sich ein wunderbarer Ausblick. Aber
mit Enttäuschung muss er feststellen, dass es weiter südlich schneebedeckte
Bergspitzen gibt. Er nimmt ein paar Brocken von weiter unten und bringt sie
nach oben. Wenn dies jeder so macht wird aus diesem Hügel vielleicht doch
noch ein richtiger Berg.
Müll begleitet die
Landstraße, Plastik verwest nicht, wie die früher benutzten, natürlichen
Stoffe, wie Holz und Tierfelle. Nach einer Zeit vermehrt sich die Müllmenge,
bildet langsam die Form eines umgedrehten Trichters in den man hineinfährt.
Der Trichter wird immer breiter und dann kommt die kleine Stadt in Sicht.
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Saturday, 13 October 2018
244 Kleinere Schriften XXXVIII Ausgestiegen
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Ausgestiegen
Sie standen draußen vor der
Kneipe, darauf wartend, wieder hineingelassen zu werden. Die Besucher waren fast
ausschließlich Ausländer, Deutsche. Was brachte diese jungen Leute zwischen
achtzehn und fünfundzwanzig dazu in einem ärmeren Land, als ihrem Heimatland,
zu betteln, Bilder auf die Straße zu malen, Blutplasma zu spenden und den Tag
mit Trinken, Rauchen und Herumliegen zu verbringen? Vielleicht die südliche
Wärme und die Möglichkeit, aus einer Gesellschaft auszusteigen, mit der sie
sich nicht identifizieren konnten oder wollten. Sie sahen zu, wie der
einheimische, spanische Wirt zuerst die alten Holzspäne vom Boden aufkehrte,
schnell aufwischte, die Fenster aufmachte, damit es schneller trocknete und
dann wieder neue Holzspäne auf den kahlen, kalten Fliesenboden streute. Das
ganze erinnerte nur deshalb an eine Kneipe, weil es mehr Fenster als in einer
Wohnung, eine Schenke mit ein paar Zapfhähnen, einer Kaffeemaschine und ein
paar Stühlen mit Tischen gab. Die Tische waren wichtig, nicht um ihre
Getränke darauf zu stellen, sondern um die kleinen Taschen, in denen diese
Aussteiger oder vielleicht auch Abgerutschte ihre wenige Habe verstauten, vor
dem Schmutz auf dem Boden zu schonen. Sie auf den Boden zu stellen, wäre
nicht ratsam gewesen, hatten doch auch selbst sie sich sehr schnell die
örtliche Gewohnheit angeeignet, auf den Boden zu spucken, oder Müll aller Art
ganz einfach neben sich fallen zu lassen. Während sich jeder ohne weiteres
auf der Straße auf den Boden setzte um zu betteln oder Bilder zu malen,
scheute sich da in der Kneipe jeder davor. Mit Sandalen war es besonders
unratsam, sich in die Kneipe zu wagen. Es war ein Treffpunkt für sie, die da
die gleiche Sprache beherrschten, wenn sie um die Fiesta-Zeit oder am frühen
Abend ihr kleines, angeschafftes Geld in Alkohol und Rauchbares umsetzten,
bevor sie sich dann in der Dunkelheit einen Schlafplatz in irgendeinem
verfallenen Haus, auf der alten Burg, in einem Park oder am Strand suchten.
Für langhaarige Hippies waren sie ein bisschen zu jung, wir schreiben die
achtziger Jahre in Málaga. Franco war fast zehn Jahre gestorben und mit der
darauffolgenden Grenzöffnung fanden sich nicht nur reiche Touristen,
Investoren, Rentner, die ein billiges Haus für ihren Lebensabend erstanden,
und Abenteurer ein, sondern auch Aussteiger. Sie alle fühlten, dass sich im
alten, steifen Europa der Nachkriegszeit etwas ändern müsste. Der Landweg
nach Marokko, in das Drogenhändler und Hippies den Cannabis gebracht hatten,
war nur noch von einer dreizehn Kilometer breiten Meerenge versperrt. Die
spanischen Behörden waren überfordert, und wollten sich eigentlich mit diesem
zum größten Teil illegalen Einwanderervolk, von denen die meisten auch über
keine Ausweisdokumente verfügten, nicht beschäftigen. An jeder Ecke verkaufte
irgendein armer Spanier oder Zigeuner das Zeug. Ein neues Holland, aber im
warmen Süden war entstanden. Und wenn sich die Polizei oder irgendein
Ladenbesitzer doch einmal zu sehr von einem dieser Leute gestört fühlte,
wurde diese Person in ein Polizeiauto gesetzt, gefragt, wohin sie gehen
möchte, mit dem Auto zehn Kilometer außerhalb der Stadt in Richtung der
gewünschten Stadt abgesetzt und verabschiedet. Málaga war nur ein Beispiel
für eine deutsche Kolonie, in anderen Städten Andalusiens gab es
französische, englische, dänische oder andere Treffpunkte. Vorher war es die
Türkei gewesen, die diese Leute ungewollt aufnahm, aber nachdem sich die
politische Lage aufgrund des türkisch-kurdischen Konfliktes verschärft
hatte, übernahmen die südlichen Länder des mittleren und westlichen
Mittelmeers diese Stellung, Griechenland, Italien, Spanien und Portugal. Wie
die Wandervögel zogen sie vom steifen, ‘ordentlichen‘ Norden in den noch
unkontrollierten Süden.
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Monday, 8 October 2018
243 Kleinere Schriften XXXVII Die faule Jugend
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Die faule Jugend
“Diese Jugend von heute ist
einfach verweichlicht. Die wollen nicht mehr richtig arbeiten.“ hörte ich die
alten Nachbarinnen durch die Wohnungstür im Treppenhaus des alten, noch aus
richtigen Ziegelsteinen gebauten Mietshauses, das ich mit zehn anderen Parteien
bewohnte. Ich kümmerte mich nicht sehr darum, da ich mich sowieso nicht
unbedingt als Mitglied der Gesellschaft betrachtete, und wie die eine die
andere Schicht schalt (schelten / schilt, schalt, h. gescholten), berührte
mich nicht im Geringsten. Es war eine Kleinstadt und ich hatte meinen
Zwei-Zimmer-Unterschlupf in einem Außenbezirk mit vielen Gartenhäusern. Im
Winter musste natürlich der Gehsteig schneefrei gehalten und im Sommer
manchmal gefegt werden. Dies geschah durch Arbeitsteilung. Jeder im Haus
bekam eine Woche zugeteilt, was einen Rhythmus von zehn Wochen ergab. Hatte
man Glück, so war man gerade dann an der Reihe, wenn es eigentlich nichts zu
tun gab.
Bei einer dieser
Gelegenheiten kam eine ältere, wohlbeleibte Frau gerade vom Einkaufen und als
sie mich sah, lobte sie mich, wie fleißig ich doch sei, wartete einen Atemzug
und bat mich dann, ihr doch beim Tragen der schweren Taschen zu helfen. Ich
bin keine Jesus-Figur, aber wenn man mich höflich bittet, kann ich so etwas
meist nicht zurückweisen. Ich half ihr also, die Taschen zu tragen, es waren
ja nur ungefähr dreihundert Meter ein bisschen den Berg hinauf. Auf diesem
kurzen Weg erzählte sie mir einen Teil ihres Lebens, wie schwer die Kriegs-
und Nachkriegszeit gewesen sei, dass ihr Mann sie schon einige Zeit verlassen
habe, um in einer glücklicheren Welt, da oben neben Gott, seinen würdigen
Platz einzunehmen. Hierzu führte sie die Handkreuzbewegung auf ihrer Brust
aus. Beim Gartentor angekommen schloss sie es auf und ich trug die Taschen bis
zur Haustür. Dabei ging es durch einen ziemlich großen Garten, der ein wenig
verwahrlost aussah. Ihr Sohn wohne in der Stadt und helfe ihr überhaupt
nicht. „Naja,“ dachte ich bei mir, „ich hätte auch bessere Dinge zu tun.“
Natürlich sagt man so etwas nicht laut, sondern lässt nur seine Gedanken
schweifen. Beim Abschied drückte sie mir noch einen Apfel aus ihrem Garten in
die Hand und nannte mich ihren Sohn.
Es verging keine Woche, als
sie sich vor dem Haus, in dem ich wohnte, mit einer anderen Nachbarin unterhielt.
Im Vorbeigehen grüßte ich sie und wollte meinen Weg fortsetzen, um ins
Schwimmbad zu gehen. Sie hielt mich auf und bat mich ihr doch am nächsten Tag
zu helfen, den kleinen Komposthaufen ein bisschen umzuschichten, da sie in
ihrem Alter zu so schwerer Arbeit nicht mehr fähig sei. Ein bisschen die
Stirn runzelnd willigte ich ein und begab mich am nächsten Morgen zur
besprochenen Zeit zu ihrem Haus. Nach kurzem kam sie mit einem strahlenden
Gesicht heraus, führte mich in den anderen Teil des Gartens hinter ihrem
Haus. Nun zeigte sich erst richtig der ganze Umfang des Eigentums, das einen
ganzen Mann in Vollzeitbeschäftigung benötigt hätte, um dort Ordnung zu
schaffen und dann auch weiterhin aufrechtzuerhalten. Sie stand neben mir und
erzählte mir Geschichten und ein paar ihrer eigenen Gedanken, vielleicht, um
mich zu unterhalten. Zum Beispiel, dass sie nicht verstehe, warum diese
jungen Leute Sport treiben, wo doch Gartenarbeit wesentlich gesünder wäre und
vor allem auch noch nützlich. Während ich schwitzte, fragte sie mich, ob ich
ein Bügeleisen habe. Aber da ich eigentlich nur T-Shirts, Pullover und Jeans
trug, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, so etwas zu kaufen. Nach
Beendigung der Arbeit gab sie mir ein altes, elektrisches Bügeleisen und wollte
mich überreden am nächsten Tag wieder zu kommen, um einige andere Tätigkeiten
im Garten zu erledigen. Ich drückte ihr das unnütze Geschenk, oder vielleicht
Bezahlung wieder in die Hand und war mit schnellen Schritten aus dem Garten verschwunden.
Seit dieser Zeit erzählte sie in der ganzen Nachbarschaft, dass mir die
Arbeit nicht schmecke. Und seit jener Zeit umging ich sie in weitestem Bogen.
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