241 Kleinere Schriften XXXV 1) Das Schicksal und das Mutterherz 2) Die
Lebensdauer autoritärer Regime
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1) Das Schicksal und das
Mutterherz
2) Die Lebensdauer
autoritärer Regime
1) Das Schicksal und das
Mutterherz
Er trank gierig die kleinen
Schlucke, die ihm langsam eingeflößt wurden, dann machte er langsam die Augen
auf. Nun erinnerte er sich, was geschehen war. Er war mit hundert anderen an
den Rand einer Grube gestellt und von hinten erschossen worden. In den
Sekunden vor dem Schuss lief noch einmal sein ganzes Leben vor ihm ab. Als er
eben eine Schlussfolgerung ziehen wollte, fühlte er den Einschlag der Kugel,
wie einen Knüppel in seinem Rücken und alles wurde schwarz. Wie und wohin er
gefallen war, hatte sein Körper nicht mehr gespürt.
Er hatte doch gerade Wasser getrunken.
Woher kam das? Es regnete nicht. Wieder kam ein bisschen Nass. Vielleicht
blutete er im Mund, trank sein eigenes Blut. Jede Bewegung war unmöglich,
keine Kraft dazu, wie gelähmt. Seine Augen wanderten langsam von rechts nach
links. Fast völlige Dunkelheit um ihn herum, Wolken verdeckten den Mond. Es
kostete ihn unheimliche Kraft, nach unten zu schauen. Nichts. Für den Blick
nach oben war er schon zu schwach. Wieder ein bisschen Feuchtigkeit in seinem
Mund. „Hörst du mich?“ – fragte ihn eine Stimme, wie aus großer Entfernung.
Immer wieder fielen die Augenlider zu, aber es wurde ihm klar, dass er noch
lebte, dass die Feuchtigkeit kein Blut war, sondern Wasser. Jemand flößte es
ihm ein, kleine, fast abgemessenen Mengen, damit er sich nicht verschluckte.
„Hörst du mich?“ – klang wieder die Frage. Sie hob seinen Kopf ein bisschen
und legte den Arm eines anderen Hingerichteten darunter. Nun sah er eine
Frau. Ihr Gesicht war nur etwa einen halben Meter von seinen Augen entfernt.
Er sucht in seinem Gedächtnis, aber kannte sie nicht. Sie musste gemerkt
haben, dass er langsam zu sich kam, deshalb fing sie an länger zu sprechen.
„Heute ist der Geburtstag meines Sohnes.“ Hass verzerrte ihre Stimme. „Er
wäre einundzwanzig Jahre alt geworden. Vor einem halben Jahr hast du ihn
mitgenommen. Ich flehte ihn an, nicht zu gehen, aber er ließ sich nicht
halten. Du hast ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt. Ich betete und weinte,
niemand hörte mir zu.“ – Sie machte eine kleine Pause. „Dann kamen die
Uniformierten, mitten in der Nacht, zogen mich aus dem Bett, hoben mich auf
einen Lastwagen und zeigten mir einen Toten. Die Taschenlampe beleuchtete
sein Gesicht.“ Sie kämpfte sichtlich mit den Tränen. „Mein Sohn war tot.“ Sie
gab ihm wieder einen kleinen Schluck Wasser. „Warum hast du ihn mitgenommen?
Wolltest du vielleicht nicht allein sterben? Wen interessiert die Welt? Was
ist Freiheit, wenn einer tot ist?“ Nun konnte er die Umrisse des Gesichts ein
bisschen besser erkennen, aber war unfähig, die Lippen zu bewegen. „Ich habe
dir den Tod gewünscht, tausend Qualen vor dem Sterben.“
Sie schüttete ihm den Rest
des Wassers über den Kopf, stand auf und ging weg. „Autoritäre Systeme
verstecken sich immer hinter Kindern und Mutterherzen.“ – dann fielen ihm die
Augenlider zu.
2) Die Lebensdauer
autoritärer Regime
Die Grundlage für Wohlstand
und verhältnismäßige Gleichgerechtigkeit ist Demokratie. Dies, wie es anfangs
des einundzwanzigsten Jahrhundert verstanden wird, beinhaltet das Wahlrecht
der Frauen, keine Diskrimination Andersdenkender oder Anderslebender, freie Wahl
des Wohnsitzes und des Arbeitsplatzes und so weiter. Es besteht in modernen
Industriestaaten die weitverbreitete Ansicht, dass es der innigste Wunsch
eines jeden Einzelnen ist, in einer solchen Gesellschaft zu leben, und dass
autoritäre Regime sich nicht lange halten können.
Dies klingt fast wie ein
Wahlprogramm einer fortschrittlichen Partei. Es gibt nur ein paar kleine
Schönheitsfehler. Die geschriebene Geschichte der letzten viertausend Jahre
betrachtet muss doch leider festgestellt werden, dass es eine solche Art von
freier Gesellschaft eigentlich erst seit knapp einhundert Jahren gibt.
Neunzehnhundertfünf bekamen die finnischen Frauen als erste in der Welt das
Wahlrecht, neunzehnhundertsechs wurde gesetzlich die Trennung von Staat und
Kirche in Frankreich festgelegt, eine genau geführte Statistik würde zeigen,
dass die wenigsten der Könige, Despoten, Diktatoren oder anderer
Alleinherrscher durch einen gewaltsamen Tod oder Thronverlust gestürzt
wurden. Die Vereinigten Staaten erleben heute (zweitausendsiebzehn bis
einundzwanzig), wie ein Clown alle diese Werte in Frage stellt und dabei noch
über eine große Zahl von Anhängern verfügt, in Europa sind Neofaschisten in
fast allen Staaten im Vormarsch, in Osteuropa (besonders Ungarn und Polen)
gibt es keine Demokratien.
Woher kommt dieses Vertrauen
in die Zukunft? Oder glaubt man vielleicht, dass sich die Menschheit, wie
beim Dialektischen Materialismus von Marx, unwiderruflich in Richtung
demokratischer Gesellschaften bewegt, ohne dass dazu die geringste Anstrengung
unternommen werden müsste.
Liebe Leutchen! Bitte
aufwachen! Schaut euch doch ein bisschen um!
Es ist eine Tatsache, dass
neunzig Prozent der Gesellschaft eine starke Hand wünscht, weil sie unter
Minderwertigkeitskomplexen leiden, dass sie zu faul sind, ihren eigenen Kopf
anzustrengen, dass es für diese Mehrheit wesentlich bequemer ist, nach
obenhin Füße zu küssen und nach untenhin zu treten, dass sie fast alle
intolerant sind und nationalistische, rassistische Neigungen haben.
Wir stehen erst am Anfang
der demokratischen Ära und es könnte ganz leicht zu einem schnellen Ende
kommen, wenn wir uns nicht alle auf die Hinterfüße stellen, um das Erreichte
zu verteidigen.
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Saturday, 1 September 2018
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