169) Das große Werk
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Das große Werk
Er hatte gerade seine Arbeit
in der Fabrik beendet und wandelte gemäßigten, verträumten Schrittes nach
Hause. Langsam schaltete sein Gehirn um, suchte die Brücke zu dem, wo er in
der letzten Nacht aufgehört hatte und jetzt weiterarbeiten wollte. Seine Arbeitskollegen
riefen ihn in die Kneipe zu einem Getränk, aber er wehrte ab. In den letzten
Monaten hatte er sich ganz verändert. Er war fünfzig geworden und an seinem
Geburtstag so betrunken gewesen, dass er danach drei Tage das Bett hatte
hüten müssen.
Aber was machte er seit
diesem Tag jeden Abend allein zu Hause? Er war geschieden, seine Kinder
wollten nichts von ihm oder er nichts von ihnen wissen, er hatte es
vergessen. Er arbeitete an seinem Lebenswerk. Etwas, ihn verewigen,
überleben, nach ihm bleiben sollte. In Urzeiten wurden aus Helden Götter,
später Legenden. Heute standen diese Leute in Geschichtsbüchern. Aber normale
Leute wurden spätestens nach zwei bis drei Generationen vergessen. Dass er
während seines Lebens unbekannt blieb, störte ihn nicht, weil er dann
wenigstens seinen Alltag ruhig genießen konnte. Aber nach seinem Tod sollten
alle erfahren, wen man an ihm verloren hatte.
Nach zehn Jahren Arbeit war
er eigentlich gut vorangekommen. Natürlich gab es manchmal Höhen und Tiefen.
Und jetzt sollte er bald in Rente gehen, dann könnte er sich ganz seinem Werk
widmen, würde nicht durch Fabrikarbeit unterbrochen. Er ging nur noch unter
die Leute, wenn er etwas einkaufen musste.
Für die meisten war er
einfach ein Spinner. „Ja, alte Leute, die leben nur noch für sich, träumen
von alten Zeiten, verstehen die neue Welt nicht mehr, aber wollen auch von
ihr nicht verstanden werden. Die alten Jungfern rennen ständig in die Kirche,
die alten Männer immer in die Kneipe.“ Aber was machte dieser hier? Die Jungen
interessierte es nicht, sie waren sogar froh, wenn sie ihn sahen, weil er
sich nicht mit ihnen beschäftigte, sie nicht störte. Und seine Zeitgenossen?
Sie wurden immer weniger, starben langsam aus, hätten gern mit ihm
gesprochen, doch er ging einfach an ihnen vorbei. Sie begannen schlecht über
ihn zu sprechen, weil er sie aus seinem Leben ausschloss. Seine Welt war
nicht mehr ihre. Er merkte nicht, wie er sich langsam vom Leben entfernte,
verwahrloste ein bisschen, wusch sich seltener, verbreitete einen eigenartigen
Geruch, aß unregelmäßig, versank in seinem Werk. Nach seinem Tod würde man es
entdecken und würdigen.
Als er eines Morgens
aufwachte, ein warmer herbstlicher Tagesanfang, vom Bett aus betrachtete er
das Ergebnis seiner Arbeit. Es war fertig. Was würden sie damit machen, wenn
sie es fänden. Sehr oft hatte er erfahren müssen, wie Dinge einfach
weggeworfen wurden, weil sie für die Nächsten nicht mehr wichtig waren, weil
sie darin das Werk nicht sahen, oder nicht sehen wollten, vielleicht nicht
konnten. Er musste es schützen, vor unverständigen Händen und Blicken
bewahren. Aber wie? Hatte er so lange daran gearbeitet, damit es jetzt
verloren ging? Er würde es vergraben. Hinter seinem Haus im Garten. Und wenn
die Menschheit einmal reif genug ist, es zu verstehen, wird sie es finden.
Genauso wie man früher Gräber ausgeraubt hatte, aber heute ihre Schätze im
Museum ausstellte.
Nachdem man ihn monatelang
in keinem Geschäft gesehen hatte, brach die Polizei die Tür zu seinem Haus
auf. Es stank fürchterlich. Nur noch die Knochen waren da. Keiner wollte die
Bruchbude kaufen und so zerfiel sie langsam. In dem Dorf wollte sich niemand
ansiedeln und so blieb alles unberührt.
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Friday, 17 June 2016
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