Friday, 17 June 2016


169) Das große Werk
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Das große Werk
Er hatte gerade seine Arbeit in der Fabrik beendet und wandelte gemäßigten, verträumten Schrittes nach Hause. Langsam schaltete sein Gehirn um, suchte die Brücke zu dem, wo er in der letzten Nacht aufgehört hatte und jetzt weiterarbeiten wollte. Seine Arbeitskollegen riefen ihn in die Kneipe zu einem Getränk, aber er wehrte ab. In den letzten Monaten hatte er sich ganz verändert. Er war fünfzig geworden und an seinem Geburtstag so betrunken gewesen, dass er danach drei Tage das Bett hatte hüten müssen.
Aber was machte er seit diesem Tag jeden Abend allein zu Hause? Er war geschieden, seine Kinder wollten nichts von ihm oder er nichts von ihnen wissen, er hatte es vergessen. Er arbeitete an seinem Lebenswerk. Etwas, ihn verewigen, überleben, nach ihm bleiben sollte. In Urzeiten wurden aus Helden Götter, später Legenden. Heute standen diese Leute in Geschichtsbüchern. Aber normale Leute wurden spätestens nach zwei bis drei Generationen vergessen. Dass er während seines Lebens unbekannt blieb, störte ihn nicht, weil er dann wenigstens seinen Alltag ruhig genießen konnte. Aber nach seinem Tod sollten alle erfahren, wen man an ihm verloren hatte.
Nach zehn Jahren Arbeit war er eigentlich gut vorangekommen. Natürlich gab es manchmal Höhen und Tiefen. Und jetzt sollte er bald in Rente gehen, dann könnte er sich ganz seinem Werk widmen, würde nicht durch Fabrikarbeit unterbrochen. Er ging nur noch unter die Leute, wenn er etwas einkaufen musste.
Für die meisten war er einfach ein Spinner. „Ja, alte Leute, die leben nur noch für sich, träumen von alten Zeiten, verstehen die neue Welt nicht mehr, aber wollen auch von ihr nicht verstanden werden. Die alten Jungfern rennen ständig in die Kirche, die alten Männer immer in die Kneipe.“ Aber was machte dieser hier? Die Jungen interessierte es nicht, sie waren sogar froh, wenn sie ihn sahen, weil er sich nicht mit ihnen beschäftigte, sie nicht störte. Und seine Zeitgenossen? Sie wurden immer weniger, starben langsam aus, hätten gern mit ihm gesprochen, doch er ging einfach an ihnen vorbei. Sie begannen schlecht über ihn zu sprechen, weil er sie aus seinem Leben ausschloss. Seine Welt war nicht mehr ihre. Er merkte nicht, wie er sich langsam vom Leben entfernte, verwahrloste ein bisschen, wusch sich seltener, verbreitete einen eigenartigen Geruch, aß unregelmäßig, versank in seinem Werk. Nach seinem Tod würde man es entdecken und würdigen.
Als er eines Morgens aufwachte, ein warmer herbstlicher Tagesanfang, vom Bett aus betrachtete er das Ergebnis seiner Arbeit. Es war fertig. Was würden sie damit machen, wenn sie es fänden. Sehr oft hatte er erfahren müssen, wie Dinge einfach weggeworfen wurden, weil sie für die Nächsten nicht mehr wichtig waren, weil sie darin das Werk nicht sahen, oder nicht sehen wollten, vielleicht nicht konnten. Er musste es schützen, vor unverständigen Händen und Blicken bewahren. Aber wie? Hatte er so lange daran gearbeitet, damit es jetzt verloren ging? Er würde es vergraben. Hinter seinem Haus im Garten. Und wenn die Menschheit einmal reif genug ist, es zu verstehen, wird sie es finden. Genauso wie man früher Gräber ausgeraubt hatte, aber heute ihre Schätze im Museum ausstellte.
Nachdem man ihn monatelang in keinem Geschäft gesehen hatte, brach die Polizei die Tür zu seinem Haus auf. Es stank fürchterlich. Nur noch die Knochen waren da. Keiner wollte die Bruchbude kaufen und so zerfiel sie langsam. In dem Dorf wollte sich niemand ansiedeln und so blieb alles unberührt.
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