213) August 2, 2017 - Sie leben in einer Streichholzschachtel
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August 2, 2017
Sie leben in einer
Streichholzschachtel
Die Sommerferien hatten
gerade angefangen und obwohl ich erst siebzehn geworden war, entschied ich,
meinen ersten Ausflug in die große Welt zu machen. Meine Jungfernreise ins
Ausland führte mich nach Nizza. Ein wunderbares Gefühl, befreit von allem,
was mir in meiner Heimatstadt zu eng geworden war. Bereits am dritten Tag
hatte man mir mein Geld gestohlen. Aber ich hätte mich doch geschämt, sofort
wieder nach Hause zu fahren. Von ein paar Obdachlosen, Deutschen und
Franzosen lernte ich, wie man auch ohne Geld überlebt. Einer dieser Leute
dort kam aus meiner Gegend und war nicht unbedingt erfreut, mich zu sehen.
Fünfunddreißig Jahre später sollte ich verstehen, was der Grund dafür war.
Wir saßen hier zwischen Monte Carlo und Cannes, zwischen Fürsten und weltberühmten
Schauspielern und nun sprach da einer über eine deutsche Provinzstadt.
Fünfunddreißig Jahre später
gab mir ein rechtsgerichteter Ungar ein von einem verarmten, deutschen
Adligen geschriebenes Buch, in dem sich ein Kapitel mit einem Teil der Geschichte
Ungarns und danach eines mit der von England beschäftigte. Deutsche
Provinzstadt – Monte Carlo, Ungarn – England. Ich las das Kapitel über die
Geschichte Ungarns und beschloss, ihm einen kleinen Vortrag über Geschichte
zu halten.
Fünfhundert Jahre vor
unserer Zeitrechnung wanderten germanische Stämme nach Europa ein. Sie
verbreiteten sich vom Ural bis zum Rhein, von Skandinavien bis ins
Karpatenbecken. Ungefähr tausend Jahre später kamen asiatische Stämme und
verdrängten die Germanen aus ihren südlichen Siedlungsgebieten. Im siebten
Jahrhundert verdrängten die Slawen die Germanen aus den östlichen Gebieten.
Während die Ungarn am Ende des neunten Jahrhunderts einen Keil zwischen
Nord-Ost-Slawen und Südslawen trieben, versuchten die germanischen Fürsten, das
Vordringen der Slawen im Raum Polen und Tschechei zu verhindern. Im
dreizehnten Jahrhundert suchten die Könige des Heiligen Römischen Reiches (Im
neunzehnten Jahrhundert wurde der Name“ Heiliges Römisches Reich Deutscher
Nation“ geprägt.) eine neue Aufgabe für die aus dem Heiligen Land
zurückgekommen Ritter, und schickten sie in die baltischen Gebiete. Jene
bauten dort die Ländereien des Deutschen Ritterordens auf, wobei sie die dort
ansässigen Slawen und Finn-Ugoren wie Sklaven behandelten (Daher der Begriff
„sclavus“, der später ins Lateinische übernommen wurde.). Die Habsburger
verrichteten das gleiche mit den Ungarn und Slawen in den östlichen Provinzen
ihrer Donaumonarchie. Im späteren Geschichtsunterricht des deutschsprachigen
Raumes nahmen diese Geschehnisse, neben den Kriegen mit Frankreich und denen
in Italien, einen wichtigen Platz ein. Selbst Internationalisten wie Marx
sahen im Slawentum eine Gefahr für die europäische Kultur (Später sollten die
Chinesen die Rolle der Phantominvasoren übernehmen.) und unterstützte mit
seinen Manifesten aus den Jahren achtzehnhundertachtundvierzig/neunundvierzig
die Ungarn gegen die Habsburger und Slawen. Hitler machte sich dieses
Hirngespinst zu eigen und propagierte seinen „Lebensraum im Osten“. Außerdem
hatte sich der Kommunismus zuerst in Russland verwirklicht, was es den
Faschisten leicht machte, diese Utopie mit dem Slawentum auf einen Nenner zu
bringen.
In dem obengenannten Kapitel
des Buches ging es auch noch um Ungarn, die in Amerika zum Beispiel die
Filmindustrie bestimmten/überschwärmten. Er hatte nur vergessen, zu erwähnen,
dass diese Leute zum Teil Juden oder Oppositionelle waren, die aus dem
Horthy-Ungarn hatten fliehen müssen.
Weiterhin behauptet dieser
verarmte, deutsche Adlige, dass die Ungarn durch die Öffnung der Grenzen für
die deutschen Flüchtlinge neunzehnhundertneunundachtzig den Kommunismus zum
Zusammenbruch gebracht, und sich so für die Ereignisse von Ende
neunzehnhundertsechsundfünfzig revanchierten haben sollen. Würde ein Ungar
einem Polen die Geschichte so auftischen, müsste er damit rechnen, dass der
Pole ihn auslacht, hatte dieser doch zehn Jahre lang den Sowjets mit seiner
Solidaritätsbewegung das größte Kopfzerbrechen bereitet, während der Ungar
knapp ein halbes Jahr später bei den Mai-Paraden
neunzehnhundertsiebenundfünfzig Kádár János feierte. Der Pole würde ihm
vorwerfen, im ganzen kommunistischen Blog der größte Russenfreund gewesen zu
sein und als Gegenleistung den höchsten Lebensstandard erhalten zu haben. Bei
Geschichtswissenschaft dreht es sich nicht darum, wer sie wie auslegt,
sondern um ein gemeinsames Einverständnis aller Beteiligten.
Diese Leute leben in einer
Streichholzschachtel und sehen nicht, was um sie herum geschieht, und es
interessiert sie auch nicht.
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Wednesday, 2 August 2017
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