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Sechsundfünfzig
Geboren neunzehnhunderteinundzwanzig, jetzt zweitausendeins sah
er sich verlassen, von seinem Weltbild, seiner Umgebung, sogar von seinen
Enkeln. Etwas, wogegen er sein ganzes Leben gekämpft hatte, war wieder im
Kommen, der Faschismus. Heute wollten sie in ihm ein Schuldgefühl für etwas
erwecken, was er sechsundfünfzig getan hatte und jetzt erneut begehen würde,
nämlich gegen den Faschismus und Rassismus aufzutreten.
Das Horthy-Regime war für ihn ein Albtraum gewesen, seinen besten
Schulfreunden war die Aufnahme an der Universität verweigert worden. Später
am Arbeitsplatz hatte man Juden angezeigt, die dann plötzlich verschwanden.
Und dann kam schließlich der Eintritt in einen sinnlosen Krieg an der Seite
eines Massenmörders. Er selbst wurde an die russische Front geschickt, wo er
sah, wie die Leute der Arbeitskommandos, meistens Juden oder Regime-Gegner,
wie die Fliegen dahinstarben. Die ungarischen, regulären Truppen benahmen
sich gegenüber den Ukrainern nicht viel besser, als die Deutschen. Die Slaven
waren für sie nur Untermenschen, und deren Frauen und Töchter zu
vergewaltigen, war keine Sünde. Der Horthy-Faschismus hatte die Ungarn zu
Tieren gemacht.
Er war einer der wenigen, die das überlebten. Um zu verhindern,
dass man ihn noch einmal einberuft, ging er in den Untergrund. Aber dieser
war klein. Die Ungarn unterstützten ihren Horthy und später Szállasi. Als die
Russen im Land eintrafen, musste er feststellen, dass sie nicht nur gekommen
waren, um die Welt vom Faschismus zu befreien, sondern auch um sich zu
rächen. Er versuchte für sie eine Entschuldigung zu finden: „Schließlich
hatten die Ungarn angegriffen und sich wie Tiere benommen.“ Natürlich merkte
er selbst, dass dies nicht vertretbar war, aber er war überzeugt, dass die
Russen weniger schlimm waren, als die Horthy-Faschisten. Den Beweis dafür
lieferte ein genaueres Studium der Geschichte.
Die ersten Nachkriegsjahre bekämpfte er alles, was
Rechtsgerichtet war, auch wenn er sich immer wieder die Frage stellte, ob es
richtig sei. Und dann kam Sechsundfünfzig und Nagy Imre. Ein Drahtseiltanz
zwischen Russen und Faschisten. Nagy hatte keine Chance, zu gewinnen. Viele,
nicht alle, ließen da auf der Straße die alten Stimmen aus der Vorkriegszeit
hören, nachdem es in verschiedenen Dörfern und Städten Ungarn zwischen
sechsundvierzig und neunundvierzig erneut Judenpogrome gegeben hatte. Die
Schrecken dieses Alptraumes erschienen wieder vor seinen Augen und er schoss.
Einfach in die Menge hinein! Die Faschisten sollten nicht noch einmal
gewinnen. Als dann russische Panzer auftauchten, zog er sich zurück. Daran
wollte er nicht mehr teilnehmen. Später schlug man ihn für verschiedene
Auszeichnungen vor,die er ablehnte. Er sprach auch nie mit jemandem darüber,
weil er nicht darauf stolz war, aber wusste, dass er das einzig Richtige
getan hatte.
Das Leben ging weiter, er arbeitete, versuchte, wie jeder andere,
ein guter Familienvater zu sein. Sein Sohn wurde ganz anders, wie er, lehnte
sich ständig gegen das Kádár-Regime auf. Manchmal kam es zwischen ihnen zum
Streit, später zum Bruch. Sein Sohn zog aus und besuchte die Mutter nur dann,
wenn der Vater nicht zu Hause war. Zwei verschiedene Generationen mit
verschiedenen Lebenserfahrungen. Seinen Enkel sah er nur ganz selten, wenn
sein Sohn ihn über das Wochenende oder die Ferien bei der Großmutter ließ.
Und deshalb gelang es Großvater und Enkel nicht, eine vertrauliche Beziehung
aufzubauen.
Beim Systemwechsel schrien viele danach, die Verbrecher, wie sie
sie nannten, vor Gericht zu stellen. Vor allem solche, die keine Ahnung
hatten und dies nur für politische Ziele nutzen wollten. Aber der Ungar hatte
aus seiner Geschichte schon wieder nichts gelernt und ließ sich an der Nase
herumführen. Aber als einmal sein erwachsen gewordener Enkel zu Besuch kam
und ihn direkt anklagte, wurde es ihm zu viel. Der Enkel hatte dabei
vergessen, dass auch der Vater ein guter Kádárist war, obwohl er hinter dem
Rücken der Leute anders gesprochen hatte. Der Großvater stand auf, ging in
seine Garage und werkte etwas. Sein Enkel fasste dies als Eingeständnis auf.
Ein paar Jahre später starb er und redete, wie alle Leute vor ihrem Tod, im
Halbtraum sehr viel durcheinander. Der Enkel sollte ein paar Jahre darauf
erzählen, dass sein Großvater unter großen Gewissensbissen gelitten habe.
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Monday, 7 March 2016
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