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Sonntag
Schon seit Tagen hatte er sich darauf vorbereitet. Nein,
eigentlich schon seit Monaten. Oder noch besser, seit Jahren. Dieser große
Tag, an dem er seinen Eintritt in die große Welt und höhere Gesellschaft
machen würde.
Bereits mit 7 Jahren, wenn seine Mutter ihn mit dem Müllsack zur
Mülltonne schickte, zog er seine besten Schuhe und Hose mit Hemd an, kämmte
sich die Haare vor dem Spiegel und versteckte den Sack in seiner Schultasche,
damit die Nachbarn es nicht bemerkten.
Deshalb nannten ihn seine Familienmitglieder nur das
Sonntagskind. Dieser Spitzname wurde später in Herr Sonntag umgeändert, weil
er sich darüber beschwerte, dass man ihn noch immer Kind schimpfte.
Seine Schulfreunde lud er nie zu sich nach Hause ein, weil er
sein Zimmer mit seinen Brüdern und Schwestern teilen musste, eigentlich nur
ein Bett und einen halben Schrank besaß. Aber da war Ordnung, jedes
Kleidungsstück, sogar die Socken und Unterhosen gebügelt und sorgfältig
zusammengelegt.
Wenn es in der Schule eine Veranstaltung gab, erwähnte er es zu
Hause aus Angst nicht, um zu verhindern, dass jemand aus seiner Familie dort
erschien und dadurch jemand im Bildungszentrum erfuhr, woher er wirklich kam,
oder wie er tatsächlich lebte. Ja, er schämte sich seiner Herkunft.
Von seinem Onkel, der wegen Betrug und Hinterziehung im Gefängnis
gewesen war, lernte er Tricks, wie man Leuten glauben macht, dass man jemand
anders war, oder jemand anders sei, oder wie man in ihnen Vertrauen erweckt.
Ein Lehrer in der Schule zeigte ihm die Bibliothek und eine Reihe
von Büchern, die man unbedingt lesen sollte. Er betrachtete mit großen Augen
die langen Regale, schätzte, dass dies ein jahrelanges Studium in Anspruch
nehmen würde, und beschloss lieber anderen Leuten zuzuhören, die dies alles
für ihn gedanklich zusammenfassen würden. Sein Glück bestand dann im
Allgemeinen darin, dass die meisten, mit denen er in Kontakt trat, noch
weniger als er gelesen hatten und deshalb nicht kontrollieren konnten, ob es
wirklich stimmte, was er von sich gab.
Schnell lernte er, dass es nützlich war, sich den mächtigen zu
nähern, weil da früher oder später immer ein paar Krümel abfielen. Aber wo
fand man diese reichen, einflussreichen Leute? Natürlich in der Kirche, wo
der Pfarrer auch sofort Ratschläge gab, welche politische Partei zu wählen
sei. Mit Kokarde am Anzug spielt er einmal die Woche den Andächtigen.
Mit fortschreitendem Alter wurde in ihm auch der Wunsch wach, das
Gefühl eines Mannes zu erproben. Er war aber so geizig Geld und Zeit in eine
Bekanntschaft mit einer Frau zu investieren, dass sich keine finden ließ. Bei
den Mädchen seines eigenen Standes hätte er wahrscheinlich besser Aussichten
gehabt, wenn er nicht auf sie herabgeschaut hätte. Deshalb fand er sich, je
nach dem, was sein Geldbeutel erlaubte, inkognito im Freudenhaus ein.
Und heute an diesem großen Tag sollte er endlich ans Licht der
Öffentlichkeit treten. Man hatte ihn gebeten, bei der Eröffnung des neuen
Stadions im Vorgarten des Führers, die Schere zu halten, mit der das
Oberhaupt das Band zum Eingang zerschnitt.
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Friday, 18 March 2016
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