Tuesday, 9 August 2016

180) Das Gesetz
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180
Das Gesetz
Es war Abend und die Menge hatte sich schon lange aufgelöst. Sie kniete allein vor dem Schafott und betrachtete ihre Eltern, die dort hingen. Manchmal sprach sie zu ihnen, aber niemand antwortete. Hunger und Durst verspürte sie nicht, nur eine abgestumpfte Ungläubigkeit, als ob sie nicht verstehen wollte, was passiert war.
Der Landherr hatte ihre Mutter begehrt, sie widerstand ihm, er gebrauchte Gewalt, sie schrie, ihr Mann kam, sie kämpften, der Fürst unterlag und rief seine Soldaten, sie nahmen die Eltern, steckten sie ins Gefängnis. Am nächsten Tag gab es die Verhandlung, zehn Minuten, dann das Urteil, Tod durch Erhängen. Ihre Eltern waren tapfere Leute gewesen, ohne einen Laut waren sie gestorben. Und das zehnjährige Mädchen hatte zusehen müssen.
Bis zum Morgen war sie vor Müdigkeit zusammengesunken. Jemand kam und brachte die Erschöpfte ins Waisenhaus. Tagelang nahm sie nichts zu sich, gab keinen Mucks von sich, bewegungslos auf dem Lager aus Stroh und Kartoffelsäcken. Am dritten Tag kam eine Nonne, hob ihr ein bisschen den Kopf und flößte ihr langsam ein wenig dünne Mehlsuppe ein. Sie stand noch immer unter Schock und lag meist mit offenen Augen da. Nach drei Wochen wurde sie in den Garten zu einer Bank geführt, in der Hoffnung, dass das Zwitschern der Vögel und der Duft der Blumen ihr neuen Lebenswillen einhauchen würden. Nach weiteren zwei Monaten ging sie dann in die einklassige Schule des Waisenhauses, aber sprach noch immer nicht, nickte nur, oder schüttelte langsam den Kopf, wenn sie angesprochen wurde. Niemand wusste, was sie gerade dachte, weil ihr Gesicht keine Gemütsrührung verriet. Sie las, schrieb manchmal etwas, wie in einer Geheimschrift, nahm immer öfter an den Hausarbeiten teil, blieb dennoch weiterhin stumm. Mit fünfzehn wurde sie dann gefragt, ob sie für immer als Nonne im Kloster verweilen wolle.
Der Orden hätte ihr Sicherheit gegeben, aber aus irgendeinem Grund lehnte sie es ab. Das Kloster hatte viele Geschäfte und Stände in der Gemeinde, um seine Erzeugnisse zu verkaufen. Also übernahm sie die Stelle in einem dieser Läden. Hinter dem Verkaufsraum gab es eine kleinere Kammer, jene sollte ihr zu Hause werden.
Sie war jetzt schon 16 und noch immer nicht verheiratet. Aber als Waisenkind hatte sie darauf auch keine guten Aussichten. Ein solches Mädchen galt für die Männer als Freiwild. Und da sie nicht gerade hässlich war, wäre sie auch für die wohlhabenderen ein kleines Abenteuer wert gewesen. Der Ruf einer Frau ist schnell zerstört, vor allem wenn sie alleinstehend ist. So verließ sie den kleinen Laden nur, um einzukaufen, Wasser aus dem Dorfbrunnen zu holen oder am Sonntag in die Kirche zu gehen. Keine Aufmerksamkeit erregen hieß die Devise, deshalb trug sie sowohl im Winter, als auch im Sommer ein langes Kleid, wobei nur die Hälfte ihres Gesichts und die Spitzen ihrer Finger zu sehen waren. Die Abende verbrachte sie mit Sticken, Nähen oder dem Lesen eines Buches aus der Klosterbibliothek, wohin sie sich täglich begab, um die Einnahmen abzuliefern und die Lagerbestände für den Laden aufzufüllen.
Während der Nacht verriegelte sie Fenster und Tür. Räuber und Diebe waren selten, es waren mehr die Handlanger des Landherrn oder er selbst, die die Nacht unsicher machten. Wenn er durch die Gemeinde ritt, verschwanden alle Leute in ihren Häusern, um nicht aufzufallen. Nur der Bürgermeister kam aus dem Rathaus, den hohen Herrn zu begrüßen. Aber irgendwann war sie nicht schnell genug gewesen, er hatte sie erblickt. Der Bürgermeister gab ihm dann auch sofort hilfsbereit Auskunft, wo sie wohne. In der Nacht kamen dann seine Leute und nahmen sie mit. Die Nachbarn waren froh, dass er es nur auf die arme Waise abgesehen hatte. Sie wurde nie wieder gesehen.
Die Geschichtsbücher erzählen nur über einen Fürsten, der prachtvolle Paläste bauen ließ, den die ganze Welt fürchtete, der große Eroberungen machte, dessen Krone, die er vom Papst bekommen hatte, heute im Parlament ausgestellt ist. Und dann gibt es heute Nationalisten, die auch noch auf so einen stolz sind.
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